Die Macht des toten Winkels

Die Macht des toten Winkels

Wenn die Realität sich ändert, wir aber im Autopilot bleiben, ist der nächste Crash nur eine Frage der Zeit.

Viele Führungskräfte sind mit hohem Tempo unterwegs – doch ohne Schulterblick. Der Normalcy Bias lässt uns glauben, alles bliebe wie immer. Ein gefährlicher Irrtum. Wie Sie die blinden Flecken erkennen und gezielt gegensteuern können, zeigt dieser Artikel.

Mancher wird sich noch mit Schrecken an die „Drei S“ aus der Fahrschule erinnern. (Rück-) Spiegel, (Seiten-) Spiegel, Schulterblick – fehlten diese drei Blicke vor dem Abbiegen, war die Fahrprüfung auf der Stelle beendet. Leider nicht bestanden. Das Beharren auf die drei S hat seine Berechtigung. Denn sie illustriert: Beim Fahren reicht nicht der starre Blick auf die vor einem liegende Straße, es bedarf auch der aufmerksamen Beobachtung der Umgebung. Es geht dabei den toten Winkel vorzubeugen. Bekanntlich kommt von dort viel Unheil und schlummern auch viele Biases.

In der gegenwärtigen Situation besteht die Gefahr, dass Manager und Managerinnen die Fahrschul-Lektion vergessen könnten. Sie sind mit hoher Geschwindigkeit auf einer kurvigen Straße unterwegs, den Blick nach vorne gerichtet, ohne zu bemerken, wie sich die Umgebung verändert, das Gelände enger und steiler, die Abhänge tiefer werden, die Atmosphäre kälter, gereizter und eisiger. Diese Fahrer sind in ihrem ganz persönlichen Tunnel unterwegs, ohne über die Schulter zu blicken. Das ist ja auch verständlich, keine Frage. Bei jedem Zuviel wird automatisch reduziert. Die Fahrerinnen und Fahrer ignorieren das Umfeld und Warnschilder und verlassen sich lieber darauf, dass die Straße und die Rahmenbedingungen so ungefähr bleiben, wie sie immer waren – und natürlich auf ihre bewährte Fahrkunst.

Dieses Bild beschreibt perfekt den Normalcy Bias, der als kognitive Verzerrung oder Denkfalle verstanden werden kann. Konkret ist es unser Drang zur Normalität: Je mehr Krise und Unsicherheit, desto lieber weiter wie bisher.

Das hat aus meiner Beobachtung zwei konkrete Auswirkungen:

  • einerseits die Unterschätzung der aktuellen, oft akuten Situation, bei gleichzeitiger Überschätzung der eigenen Erfahrung und
  • andererseits die Tendenz, sehr rasch in eine Beruhigung über zu gehen und auf Sätze wie „Ist halt jetzt so“, „kann man nichts machen“ , „kann ich nicht beeinflussen“ bis hin zu „eh wurscht“ zurückzugreifen – in der jetzigen Situation des Wandels kein gutes Rezept.

Der psychologische Mechanismus hinter dem Tunnelblick

Was ist der Normalcy Bias?

Das System hinter diesem Drang zur Normalität ist leicht erklärt: Unser Gehirn ist darauf programmiert, Muster zu erkennen und Stabilität zu suchen. Evolutionär machte dieser Mechanismus, nicht sofort in Panik zu verfallen, natürlich Sinn. Doch in einer Welt, die sich exponentiell verändert – sei es durch technologische Disruption, geopolitische Verschiebungen oder Klimarisiken – kann dieser Bias fatal sein.

Aufgewacht statt weitergeschlafen: Warum Führung jetzt Wachsamkeit braucht

Angesichts der krassen, gefühlt täglich neuen Veränderungen, sind Hektik und übertriebene Katastrophenstimmung keine adäquaten Antworten, denn sie ermöglichen die Gestaltung des Wandels schon gar nicht. Aber in unsicheren Zeiten ist es fatal, auf gewohnte Muster zu vertrauen, auch wenn sie uns Sicherheit geben und uns beruhigen.

Gefragt ist Wachsamkeit. Statt auf das Vertraute zu vertrauen, sollten sich Unternehmen und Entscheider in solchen Situationen kontinuierlich „Tote Winkel – Fragen“ stellen:
  • Was, wenn unsere Annahmen falsch sind?
  • Welche Signale übersehen wir möglicherweise?
  • Was tun wir aktiv, um künftige Risiken und Chancen frühzeitig zu erkennen?
  • Wo und wie lohnt sich ein Kämpfen für ein Thema oder Projekt?

Wachsamkeit bedeutet, sich immer wieder selbst herauszufordern, ungemütliche Wahrheiten anzunehmen und unbequeme Szenarien zu durchdenken. Es bedeutet, bewusst gegen den Normalcy Bias zu arbeiten, um nicht von der Realität überrascht zu werden.

Aktuell ist der größte Feind die Illusion, dass alles so ungefähr bleibt, wie es ist, bzw, dass man sich irgendwie unter dem Radar durchwurschteln kann. Gerade in Zeiten des Wandels müssen Führungskräfte lernen, den Normalcy Bias zu erkennen und aktiv zu bekämpfen. Denn wer sich nur auf Stabilität verlässt, handelt wie ein Autofahrer ohne Blick zur Seite – und riskiert damit nicht wie früher, nur durch die Fahrprüfung zu fallen, sondern einen fatalen Crash. Außerdem: Wer die neue Unordnung nur passiv über sich ergehen lässt, ohne persönliche Einordnung, verpasst vielleicht große Chancen.

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